Was komisch klingt, ist laut Studien wissenschaftlich belegt. Wer bewusst in die Natur eintaucht und sich auf die heilende Wirkung des Waldes einlässt, kann zu Wohlbefinden gelangen. Was genau dahinter steckt und warum diese Art der „Therapie“ auch von der Hotellerie genutzt werden kann, erklärt Waldtherapeut Martin Kiem im Interview.
Herr Kiem, was genau ist Waldtherapie?
Der Ursprung der Waldtherapie liegt in Japan. Das japanische „Shinrin Yoku“ bedeutet frei übersetzt so viel wie „Waldbaden“. Die seit Jahrhunderten bestehende Verbundenheit der Japaner zur Natur ist durch den Turbokapitalismus der Nachkriegszeit zu einem großen Teil verloren gegangen. Um dem entgegenzuwirken, entwickelte die Regierung das „forest bathing“-Programm, welches sich sofort großer Beliebtheit erfreute. Für mich persönlich ist Waldbaden das Eintauchen in die Natur. Dabei wird der Geist mit Sinneseindrücken überflutet. Egal, ob man barfuß über den Moosboden läuft oder nur langsam durch den Wald spaziert: Ziel ist es, seine Sinne der Natur gegenüber zu öffnen und zu entschleunigen.
An wen richtet sich in erster Linie die Waldtherapie?
Beim Wort „Therapie“ denkt man gern in Schubladen und nimmt an, dass sich das Waldbaden nur an Menschen mit Stressproblemen richtet. Weit gefehlt! Dieses Naturerlebnis ist für Frauen und Männer, Kinder und Senioren gleichermaßen geeignet. Ich selbst sehe mich dabei mehr als Moderator. „Therapeuten“ sind allein der Wald und die Natur. Ich sorge lediglich dafür, dass die Teilnehmer sich voll und ganz auf diese Erfahrung einlassen und ihre Sinne öffnen.
Welche Wirkung hat Waldbaden auf das Wohlbefinden?
Für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit sind maßgeblich drei Systeme verantwortlich. Das erste ist das Nervensystem: Der Parasympathikus, der für Erholung und Entspannung zuständig ist, wird durch das Waldbaden aktiviert. Als zweites wird das Hormonsystem positiv beeinflusst. Die Ausschüttung des Hormons Cortisol, das den chronischen Stress beeinflusst, pendelt sich durch das Waldbaden ein bzw. wird gestoppt. Das dritte System, das einen großen Einfluss auf Psyche und Physis hat, ist das Immunsystem. In der Waldluft finden sich chemische Stoffe, die sich nachweislich stärkend und aktivierend auf unser Immunsystem auswirken.
Wie lässt sich die Waldtherapie in das Wohlfühlkonzept eines Hotels integrieren?
Gäste suchen heutzutage vermehrt nach Erlebnissen und authentischen Erfahrungen, sie wollen nicht nur ein Produkt kaufen. Das Errichten von Wellnesstempeln unter der Erde und den Gast auf eine Almhütte zu schicken, ist nicht ausreichend. Den Gästen soll die Natur nicht nur erklärt werden, sie müssen sie praktisch erfahren und eine gefühlte Interaktion zu ihr herstellen. Genau hier setzt das Waldbaden an. Selbstverständlich muss diese Erfahrung auch zum Konzept des Hotels passen. Es darf nicht ein Angebot von vielen sein, es sollte von den Hoteliers auch selbst gelebt werden.
Martin Kiem studierte Arbeits- und Organisationspsychologie an der Uni Innsbruck. Anschließend arbeitete er viele Jahre lang in Sydney/Australien. Er gilt als Gründer des international tätigen Wellness-Unternehmens „Frontier Wellbeing Europa“. Darüber hinaus praktiziert und lehrt er seit mehreren Jahren Meditation und Achtsamkeit.martin@frontierwellbeing.eu |